FLAGS OF UTOPIA
AT SOHO IN OTTAKRING
Exhibition/art festival at Viennas Sandleitenhof
as part of SOHO in Ottakring 2018
Utopian Flags – Utopian Ideas
The Flags of Utopia were hoisted during the festival SOHO in Ottakring in and around Sandleitenhof. One of Vienna’s biggest social housing complexes. With each flag an utopian idea was presented in the course of a walking tour with readings.
with texts and ideas by:
Luna Al-Mousli
Elias Hirschl
Judith Nika Pfeifer
Gerhard Ruiss
Burçin Tetik
Jakob Zerbes
(to read the texts please scroll down)
Photos by Shirin Omran
AT SOHO IN OTTAKRING
Exhibition/art festival at Viennas Sandleitenhof
as part of SOHO in Ottakring 2018
Utopian Flags – Utopian Ideas
The Flags of Utopia were hoisted during the festival SOHO in Ottakring in and around Sandleitenhof. One of Vienna’s biggest social housing complexes. With each flag an utopian idea was presented in the course of a walking tour with readings.
with texts and ideas by:
Luna Al-Mousli
Elias Hirschl
Judith Nika Pfeifer
Gerhard Ruiss
Burçin Tetik
Jakob Zerbes
(to read the texts please scroll down)
Photos by Shirin Omran
WHORF
von Elias Hirschl
Es heißt, in Quezon City in der Metropolregion Manila auf den Philippinen gäbe es einen Kreisverkehr von solch enormen Ausmaßen, dass eine Umrundung mit dem Auto mehrere Minuten dauert und man manchmal mehr als vier Anläufe braucht, um aus dem Chaos der 20 verschiedenen Fahrbahnen wieder auf die Außenspur zu gelangen und rechtzeitig seine Ausfahrt abzupassen.
Immer wieder laufen ahnungslose Touristen in einem verkehrsberuhigten Moment über die 20 Fahrstreifen, um eine Abkürzung über die Verkehrsinsel im Zentrum des Verkehrs zu nehmen. Dabei endet dieses Vorhaben immer auf dieselbe Weise: Der Verkehr nimmt unerwartet plötzlich wieder zu und der Tourist sitzt auswegslos auf der Verkehrsinsel fest. Über Jahrzehnte entstand auf diese Weise auf der Insel eine größere Gemeinschaft. Die Mitglieder der, von da an „Whorf“ getauften, Insel wohnen in Zelten, die sie aus vorbeiwehenden Plastiktaschen und Zigarettenstummeln bauen und ernähren sich von überfahrenen Madern, Hunden, Katzen und Tauben die sie von den inneren Fahrstreifen auflesen. Da es sich bei den Gestrandeten ausnahmslos um Touristen handelt, ist ihre ethnische Zusammensetzung äußerst divers, wenngleich die meisten aus Industrienationen stammen und beinahe alle weiße Cargohosen tragen. Durch die unterschiedlichen Herkünfte der Inselbewohner hat sich über die Jahre ein eigentümliches Kreol entwickelt, das Begriffe und Phrasen aus über 150 verschiedenen Sprachen aufweist. Durch diese große Sprachdiversität konnten die Inselbewohner über die Jahre hinweg die sinnvollsten Begriffe aus allen vorhandenen Sprachen auslesen. Angeblich kennt das Volk von Whorf über hundert verschiedene Wörter für „Auto“. Jedoch nicht nur für „Auto“ sondern auch für Schnee, für Wolken, für Regen, für Erde, Bäume, Äste, Zweige, Blätter, Fasern, Teilchen … ihre Augen weiteten sich, ihre Ohren und Nasen auch. Sie sahen Farben, die kein Adler je gesehen, hörten Töne, die kein Hund je gehört und rochen Aromen, die kein Sternmull je gerochen hatte. Für alles was existierte gab es endlich ein passendes Wort. Für alles, was im Inneren der Menschen steckte gab es einen passenden Ausdruck. Jeder verstand jeden. Alle Informationen waren auf einmal vorhanden. Mündliche Kommunikation wurde so gut wie überflüssig, da jeder bereits wusste, was der andere sagen wollte. Die Handlungen der Menschen gingen ineinander über und verschmolzen zur Bewegung eines einzigen schwarmartigen Wesens. Sie hatten die Universalsprache entdeckt. Eine Sprache, deren Struktur deckungsgleich mit der Struktur der Realität ist. Und so können sie endlich die richtigen Fragen nach den großen ungelösten Mysterien des Universums stellen. Im abgasinduzierten Delirium liegen sie, dem Verkehr zugeneigt, am Ufer der Insel und flüstern den vorbeifahrenden SUVs, Mopeds und Jeepneys leise die letzten Fragen der Menschheit zu:
Wo geht es hier zum Bahnhof?
Haben Sie W-Lan?
Wird es hier sehr heiß im Sommer?
Bis wann gibt es Frühstück?
Ist die Terror-Gefahr hier sehr hoch?
Könnte ich die Rechnung haben?
Nehmen Sie Dollar?
Nehmen Sie Euro?
Nehmen Sie VISA?
Was nehmen Sie eigentlich?
EIN VIERECK
von Luna Al-Mousli
Ein Viereck so groß, dass alle Menschen, die ich liebe Platz hatten. Hier lernte ich krabbeln, stehen und gehen. Aber nicht nur ich, sondern auch meine dreißig köpfige Großfamilie und ihre Vorfahren. An jeder Ecke verewigte sich einer von uns.
Ein Abdruck. Ein Fleck. Ein Loch.
Und trotzdem war es etwas Besonderes.
Es ist so riesig, dass es den ganzen Raum mit Stille und Staunen füllte. Langsam breitete es sich aus, bis es alle Ecken mit seiner Sanftheit küsste.
Es war ein alter Teppich der von einer Generation in die nächste fliegen konnte.
Er vereinte klein und groß, jung und alt, Menschen die sich mochten und andere die sich ständig nur anschrien. Manchmal musste ich ihn mit anderen teilen und konnte mich nicht so ausbreiten wie ich es gern getan hätte. Zum Beispiel, wenn ich mit Lego-Steinen spielte. Die Regeln schienen von Oma festgelegt zu sein. Sie war nicht nur Herrin des Zimmers, sondern Herrin des gesamten Hauses. Obwohl sie ihre Regeln niemals aufsagte, oder aussprach, schien es für alle klar zu sein. Sie hatte eigentlich nur zwei Regeln, also war es einfach zu merken.
Regel Nummer 1. Hier sind alle willkommen,
wenn sie vorher ihre Schuhe auszogen.
Regel Nummer 2. Hier darf keiner Schokolade, Kaugummi oder Lollipops essen.
Während die Erwachsenen sich austauschten, Tee tranken und Kekse aßen, lagen wir Kinder am Boden.
Ein Viereck mit Fransen.
Ein Viereck mit Blumen in Rot und Blau.
Ein Viereck mit Vögel und Figuren die ich nicht kannte. Ich verlor mich zwischen den Farben und den Formen. Jeder Figur gab ich einen Namen und ich erfand Geschichten über ihre Herkunft und ihre Reise zu anderen Teppichen. Ich sah wie sie miteinander sprachen und Platz wechselten und auch manchmal ihre Farbe änderten. Mit der Zeit schien der Teppich zu wachsen. Bei neuen Enkelkindern und Freunden die zu Familie wurden.
Auf diesem Viereck waren sie nun auch zuhause, wie ich.
AUS „DIE GESCHICHTE DER NEUEN WELTORDNUNG“
von Jakob Zerbes
Anfang des 21. Jahrhunderts brachten wir Maschinen bei, uns zu studieren. Große Online-Händler wurden wichtige Spieler auf dem Markt. Und sie existierten nur wenige Jahre zuvor noch nicht einmal. Sie saßen auf Unmengen an Daten über uns und unseren Konsum. Was zuerst Beiprodukt war, wurde schnell zu einem Schlüsselelement ihres Geschäfts. Sie begannen die Bedürfnisse ihrer Kunden vorherzusagen. Bald wurde diese Aufgabe an Algorithmen übergeben – um gezielt Werbungen zu schalten. Sie wurden zu Weltmarktführern, in dem sie Computern beibrachten zu lernen. Jedes Bit an Information wurde gesammelt, analysiert und studiert.
Und die Menge an sammelbaren Daten wuchs rasant. Wir teilten freizügig unsere Kommunikation und unsere sozialen Interaktionen. Jede Bewegung konnte aufgezeichnet werden. Das Leben gestaltete sich zunehmend online und das „normale“ Leben wurde trackbar. Von E-Mail über GPS bis hin zu unserer Herzrate. Anfangs stießen diese Methoden auf Unbehagen. Aber dann gewann der Nutzen der Vermessung die Oberhand über anfängliche Bedenken. Wir kommunizierten schneller, wir fanden schneller was wir suchten, wir lebten gesünder. Mit den Daten wuchs die Rechenleistung, genauere Prognosen wurden zulässig: Über unsere Person, über unsere Entscheidungen, über unser Verhalten.
Wir sind ein Produkt einer unvorstellbaren Zahl an Begebenheiten, die unseren Charakter formen. Als Mensch sind wir ein hochkomplexes System. Aber wir bleiben ein System – mit genug Daten und Rechenleistung sind wir kalkulierbar.
Bald konnten uns Algorithmen also besser verstehen als wir selbst es taten. Sie sagten vorher was wir tun würden, bevor wir es taten. Was wir, als Menschen, nur implizit wussten, konnte der Algorithmus explizit ausdrücken. Der Algorithmus hat kein Unterbewusstsein. Der Algorithmus untersucht das Leben von Milliarden von Menschen, wir kennen nur das Unsere.
Zeitgleich ging die Wahlbeteiligung auf der ganzen Welt zurück. Politik, wurde zu Spektakel. Die beste Darstellung gewann – nicht die beste Idee. Die Politikverdrossenheit stieg.
Und die Algorithmen waren bereit. Die Stunde einer neuen Form der Demokratie war gekommen: die Meinung jedes Menschen, die Wünsche jedes Menschen konnten einbezogen werden – und gerecht entschieden werden. Die Idee zwischen zwei Möglichkeiten auswählen zu müssen war veraltet. Die Notwendigkeit alle 5 Jahre wählen zu gehen war obsolet.
Der Algorithmus übernahm die Politik – und repräsentierte uns individueller als jemals zuvor. Parlamente, Wahlen, Nationen und Staaten machten keinen Sinn mehr. Und alles was wir dafür tun mussten war leben – und unser Daten teilen.
Eine neue Weltordnung war geboren.
von Elias Hirschl
Es heißt, in Quezon City in der Metropolregion Manila auf den Philippinen gäbe es einen Kreisverkehr von solch enormen Ausmaßen, dass eine Umrundung mit dem Auto mehrere Minuten dauert und man manchmal mehr als vier Anläufe braucht, um aus dem Chaos der 20 verschiedenen Fahrbahnen wieder auf die Außenspur zu gelangen und rechtzeitig seine Ausfahrt abzupassen.
Immer wieder laufen ahnungslose Touristen in einem verkehrsberuhigten Moment über die 20 Fahrstreifen, um eine Abkürzung über die Verkehrsinsel im Zentrum des Verkehrs zu nehmen. Dabei endet dieses Vorhaben immer auf dieselbe Weise: Der Verkehr nimmt unerwartet plötzlich wieder zu und der Tourist sitzt auswegslos auf der Verkehrsinsel fest. Über Jahrzehnte entstand auf diese Weise auf der Insel eine größere Gemeinschaft. Die Mitglieder der, von da an „Whorf“ getauften, Insel wohnen in Zelten, die sie aus vorbeiwehenden Plastiktaschen und Zigarettenstummeln bauen und ernähren sich von überfahrenen Madern, Hunden, Katzen und Tauben die sie von den inneren Fahrstreifen auflesen. Da es sich bei den Gestrandeten ausnahmslos um Touristen handelt, ist ihre ethnische Zusammensetzung äußerst divers, wenngleich die meisten aus Industrienationen stammen und beinahe alle weiße Cargohosen tragen. Durch die unterschiedlichen Herkünfte der Inselbewohner hat sich über die Jahre ein eigentümliches Kreol entwickelt, das Begriffe und Phrasen aus über 150 verschiedenen Sprachen aufweist. Durch diese große Sprachdiversität konnten die Inselbewohner über die Jahre hinweg die sinnvollsten Begriffe aus allen vorhandenen Sprachen auslesen. Angeblich kennt das Volk von Whorf über hundert verschiedene Wörter für „Auto“. Jedoch nicht nur für „Auto“ sondern auch für Schnee, für Wolken, für Regen, für Erde, Bäume, Äste, Zweige, Blätter, Fasern, Teilchen … ihre Augen weiteten sich, ihre Ohren und Nasen auch. Sie sahen Farben, die kein Adler je gesehen, hörten Töne, die kein Hund je gehört und rochen Aromen, die kein Sternmull je gerochen hatte. Für alles was existierte gab es endlich ein passendes Wort. Für alles, was im Inneren der Menschen steckte gab es einen passenden Ausdruck. Jeder verstand jeden. Alle Informationen waren auf einmal vorhanden. Mündliche Kommunikation wurde so gut wie überflüssig, da jeder bereits wusste, was der andere sagen wollte. Die Handlungen der Menschen gingen ineinander über und verschmolzen zur Bewegung eines einzigen schwarmartigen Wesens. Sie hatten die Universalsprache entdeckt. Eine Sprache, deren Struktur deckungsgleich mit der Struktur der Realität ist. Und so können sie endlich die richtigen Fragen nach den großen ungelösten Mysterien des Universums stellen. Im abgasinduzierten Delirium liegen sie, dem Verkehr zugeneigt, am Ufer der Insel und flüstern den vorbeifahrenden SUVs, Mopeds und Jeepneys leise die letzten Fragen der Menschheit zu:
Wo geht es hier zum Bahnhof?
Haben Sie W-Lan?
Wird es hier sehr heiß im Sommer?
Bis wann gibt es Frühstück?
Ist die Terror-Gefahr hier sehr hoch?
Könnte ich die Rechnung haben?
Nehmen Sie Dollar?
Nehmen Sie Euro?
Nehmen Sie VISA?
Was nehmen Sie eigentlich?
EIN VIERECK
von Luna Al-Mousli
Ein Viereck so groß, dass alle Menschen, die ich liebe Platz hatten. Hier lernte ich krabbeln, stehen und gehen. Aber nicht nur ich, sondern auch meine dreißig köpfige Großfamilie und ihre Vorfahren. An jeder Ecke verewigte sich einer von uns.
Ein Abdruck. Ein Fleck. Ein Loch.
Und trotzdem war es etwas Besonderes.
Es ist so riesig, dass es den ganzen Raum mit Stille und Staunen füllte. Langsam breitete es sich aus, bis es alle Ecken mit seiner Sanftheit küsste.
Es war ein alter Teppich der von einer Generation in die nächste fliegen konnte.
Er vereinte klein und groß, jung und alt, Menschen die sich mochten und andere die sich ständig nur anschrien. Manchmal musste ich ihn mit anderen teilen und konnte mich nicht so ausbreiten wie ich es gern getan hätte. Zum Beispiel, wenn ich mit Lego-Steinen spielte. Die Regeln schienen von Oma festgelegt zu sein. Sie war nicht nur Herrin des Zimmers, sondern Herrin des gesamten Hauses. Obwohl sie ihre Regeln niemals aufsagte, oder aussprach, schien es für alle klar zu sein. Sie hatte eigentlich nur zwei Regeln, also war es einfach zu merken.
Regel Nummer 1. Hier sind alle willkommen,
wenn sie vorher ihre Schuhe auszogen.
Regel Nummer 2. Hier darf keiner Schokolade, Kaugummi oder Lollipops essen.
Während die Erwachsenen sich austauschten, Tee tranken und Kekse aßen, lagen wir Kinder am Boden.
Ein Viereck mit Fransen.
Ein Viereck mit Blumen in Rot und Blau.
Ein Viereck mit Vögel und Figuren die ich nicht kannte. Ich verlor mich zwischen den Farben und den Formen. Jeder Figur gab ich einen Namen und ich erfand Geschichten über ihre Herkunft und ihre Reise zu anderen Teppichen. Ich sah wie sie miteinander sprachen und Platz wechselten und auch manchmal ihre Farbe änderten. Mit der Zeit schien der Teppich zu wachsen. Bei neuen Enkelkindern und Freunden die zu Familie wurden.
Auf diesem Viereck waren sie nun auch zuhause, wie ich.
AUS „DIE GESCHICHTE DER NEUEN WELTORDNUNG“
von Jakob Zerbes
Anfang des 21. Jahrhunderts brachten wir Maschinen bei, uns zu studieren. Große Online-Händler wurden wichtige Spieler auf dem Markt. Und sie existierten nur wenige Jahre zuvor noch nicht einmal. Sie saßen auf Unmengen an Daten über uns und unseren Konsum. Was zuerst Beiprodukt war, wurde schnell zu einem Schlüsselelement ihres Geschäfts. Sie begannen die Bedürfnisse ihrer Kunden vorherzusagen. Bald wurde diese Aufgabe an Algorithmen übergeben – um gezielt Werbungen zu schalten. Sie wurden zu Weltmarktführern, in dem sie Computern beibrachten zu lernen. Jedes Bit an Information wurde gesammelt, analysiert und studiert.
Und die Menge an sammelbaren Daten wuchs rasant. Wir teilten freizügig unsere Kommunikation und unsere sozialen Interaktionen. Jede Bewegung konnte aufgezeichnet werden. Das Leben gestaltete sich zunehmend online und das „normale“ Leben wurde trackbar. Von E-Mail über GPS bis hin zu unserer Herzrate. Anfangs stießen diese Methoden auf Unbehagen. Aber dann gewann der Nutzen der Vermessung die Oberhand über anfängliche Bedenken. Wir kommunizierten schneller, wir fanden schneller was wir suchten, wir lebten gesünder. Mit den Daten wuchs die Rechenleistung, genauere Prognosen wurden zulässig: Über unsere Person, über unsere Entscheidungen, über unser Verhalten.
Wir sind ein Produkt einer unvorstellbaren Zahl an Begebenheiten, die unseren Charakter formen. Als Mensch sind wir ein hochkomplexes System. Aber wir bleiben ein System – mit genug Daten und Rechenleistung sind wir kalkulierbar.
Bald konnten uns Algorithmen also besser verstehen als wir selbst es taten. Sie sagten vorher was wir tun würden, bevor wir es taten. Was wir, als Menschen, nur implizit wussten, konnte der Algorithmus explizit ausdrücken. Der Algorithmus hat kein Unterbewusstsein. Der Algorithmus untersucht das Leben von Milliarden von Menschen, wir kennen nur das Unsere.
Zeitgleich ging die Wahlbeteiligung auf der ganzen Welt zurück. Politik, wurde zu Spektakel. Die beste Darstellung gewann – nicht die beste Idee. Die Politikverdrossenheit stieg.
Und die Algorithmen waren bereit. Die Stunde einer neuen Form der Demokratie war gekommen: die Meinung jedes Menschen, die Wünsche jedes Menschen konnten einbezogen werden – und gerecht entschieden werden. Die Idee zwischen zwei Möglichkeiten auswählen zu müssen war veraltet. Die Notwendigkeit alle 5 Jahre wählen zu gehen war obsolet.
Der Algorithmus übernahm die Politik – und repräsentierte uns individueller als jemals zuvor. Parlamente, Wahlen, Nationen und Staaten machten keinen Sinn mehr. Und alles was wir dafür tun mussten war leben – und unser Daten teilen.
Eine neue Weltordnung war geboren.
INSTANT FUTURE MAKING GAME
von Judith Nika Pfeifer
pourquoi pas das schicksal meint es süper
es wär ja (auch) ein witz das
aufwärmspiel für die altbekannte spießumkehr
the game: die spielregeln verändern
mit unterwasserflaggen & einer für die außerirdischen
damit sie verstehen wenn die wörter verblubbern
damit sie verstehen wenn (uns) die wörter verblubbern
damit sie verstehen wenn (uns) die wörter versagen
wappen >> flaggen
flaggen >> fahnen
fahnen >> fähnlein
fähnlein >> fiesfies
fieselschw. >> parolen
parole >> hashtag
hashtag >> cashtag
IN ALLEN FARBEN
von Gerhard Ruiss
Da saßen wir. Unter lauter Unbekannten, die zu uns keinen Zugang hatten und wir keinen zu ihnen. Hörten wir Kinder, nur unsere, gab es Streit, hatten wir ihn, machte wer Lärm, blieb er draußen. Tür auf, in voller Lautstärke, Tür zu, stumm. Es hätte längst alles fertig sein müssen. Nichts wurde fertig. Wir waren das einzige herzeigbare Aussehen in der gesamten Wohnanlage. In den Zeitungen war der Bau schon feierlich eröffnet worden, bezogen wurde er nicht. Es lag an den Baustoffen, ihnen fehlte der Halt. Einmal hielten sie doch, und es wurde weitergearbeitet. Wir wohnten in einer Baustelle, in der das Betreten verboten war. Wir sollten darauf achten, wo wir hinstiegen. Wir verstanden kein Wort. Das sollte sich auch später nicht mehr ändern. Bis dahin wohnten wir kostenlos. Ausgenommen die Betriebskosten.
Die Mauern blieben dünnwandig, die Fenster geschlossen. Das ganze Haus war dicht. Durch Wände, Fenster, Türen, Decken und Böden kam kein Ton. Zunächst, weil niemand da war, dann, obwohl alle eingezogen waren. Keiner hörte etwas vom anderen. Jeder blieb für sich. Alle führten zwei Leben, ein für alle anderen unhörbares bei sich zu Hause und eines einem ständig über den Weg laufendes vor der Tür. Jeder lebte vor wie hinter der Tür in seinen eigenen vier Wänden. Die einen mit den Kopfhörern zur Selbstbeschallung in ihrer Klangwolke, die anderen, weil sie in Sprachen redeten, von denen man nicht einmal wusste, dass es sie gab und in die sie sich mit ihren eigenen Fernsehkanälen und Internet-Foren in ihre eigenen Verhältnisse zurückzogen. Tür auf, laut, Tür zu, stumm.
Außerhalb des Baus waren alle von da, im Bau kamen alle aus einer anderen Welt. Verbindungen rissen nicht ab, sie kamen einfach nicht zustande. Sie wurden an der Welt der Anwesenden vorbei mit anderen Nichtanwesenden geführt. Das soll einmal anders gewesen sein, im Bau war man aus aller Welt und außerhalb des Baus war eine andere.
Von Anfang an gab es einmal monatlich einen Treffpunkttag, die Türen standen offen, anfangs nur unsere Tür für niemanden, später jede Tür für jeden und genauso für niemanden. Keiner wollte zu irgendwem, um zu sehen, was man nicht hörte. Die einzige Begegnungszone blieb der Hof, der ständig beflaggt war. Nach innen, mit allen Flaggen von allen, die hier zu Hause waren. In der Begegnungszone trafen sich die Selbstbeschaller, tauschten die Klangwolken aus, schüttelten ihre Köpfe und gaben sie weiter, solange, bis schließlich jeder wieder seine eigene Klangwolke hatte. Tür auf, laut, Tür zu, stumm. Auf eine gemeinsame Klangwolke konnte sich niemand einigen, der Hof blieb unbeschallt, an den Treffpunkttagen wie an den anderen.
Nach außen sah die Wohnanlage jeden Tag gleich aus. Abwechslung boten die an der Fassade und über die Fenster der kostengünstigeren Wohnungen gehenden, nach ein paar Monaten wechselnden Werbebanner, aus denen der teils aus öffentlichen, teils aus privaten Mitteln finanzierte Bau errichtet wurde: „Gebaut aus Plastikverschweißverpackungen von Frischhalteprodukten.” Blickdicht oder milchig oder eingetrübt transparent gemacht, in allen Farben, bis auf die Fenster, die privat für innen angebrachte Werbungen zur Abdeckung des Eigenfinanzierungsanteils verwendet werden durften: „Hier könnte Ihre Werbung stehen.”
SCHWEIGEN
von Burçin Tetik
1. März
An diesem Tag herrschte absolute Stille in den kahvehanes, den türkischen Coffeshops die ausschließlich von Herren besucht wurden. Zehntausende Männer starrten einander an und wunderten sich, wohin ihre Stimme gegangen war. In der unbehaglichen Ruhe hörten sie den laut sprudelnden Wasserkochern zu.
4. März
Am vierten Tag der epidemischen Stille wusste immer noch niemand warum oder wie es passierte. Die Menschen wachten schlichtweg in einer sprachlosen Welt auf. Vor den Krankenhäusern begannen sich lange Schlangen zu bilden. Die Ärzte hatten aber keine Erklärung. Viele benutzten ihre Handys um mit Freunden und Familienmitgliedern, die im selben Raum saßen, zu kommunizieren.
8. März
Die Nachrichten waren überall. Ein 13-Jähriges Mädchen in einem entlegenen anatolischen Dorf hatte nicht nur geschrien, sondern auch echte Worte gesprochen. Als die Dorfbewohner ihr „Nein“ und „Hilfe“ hörten, rannten sie zusammen, nicht nur weil sie einen Hilferuf, sondern vor Allem überhaupt, Worte gehört hatten. Dort fanden sie ihren Onkel, stumm gestikulierend, geschockt und mit heruntergelassener Hose. Er hatte offensichtlich nicht erwartet, dass das Mädchen schreien oder gar sprechen würde, besonders in einer Zeit wie dieser. Doch sie erzählte. Was er in der Vergangenheit getan und was er wieder versucht hatte. Ihre Stimme war das einzige menschliche Geräusch.
9. März
Aus der ganzen Welt kamen Nachrichten von Menschen, die ihre Fähigkeit zum Sprechen wiedererlangt hatten.
15. März
Es ging nicht darum, wer sprechen konnte, sondern wer nicht. Die Ersten, die das Muster erkannten, waren Feministinnen, weil sie gewohnt waren, das Schweigen der Frauen zu lesen. Jeder, der jemals jemanden sexuell angegriffen hatte, verlor die Stimme. Mütter hatten Angst, dass ihre Ehemänner und Söhne kein einziges Wort mehr sagen würden. Dennoch schien niemand überrascht, dass es vor allem Männer waren, die stumm wurden. Die Täter versuchten Heilmittel, Akupunktur, Operationen, Meditation, entschuldigten sich sogar durch lange Briefe bei den Opfern und flehten sie um Vergebung an. Nichts davon funktionierte. Jeder wusste es. Warst du stumm, warst du ein Perpetator.
25. November
Zahlreiche Komitees von „Silent No More“ hielten weltweite Pressekonferenzen ab. Von Schweden bis nach Saudi-Arabien bauten lokale Gruppen ein globales Netzwerk auf. Ein türkischer Diktator hatte Selbstmord begangen, nachdem er seine Stimme und damit seine Macht verloren hatte. Die meisten Männer zogen sich aus der Politik zurück. Die Komitees stellten die neuen WeltleiterInnen aus allen Altersgruppen, Ethnien und Hintergründen vor. Sie hatten eines gemeinsam: Sie alle waren zuvor nicht gehört worden.
von Judith Nika Pfeifer
pourquoi pas das schicksal meint es süper
es wär ja (auch) ein witz das
aufwärmspiel für die altbekannte spießumkehr
the game: die spielregeln verändern
mit unterwasserflaggen & einer für die außerirdischen
damit sie verstehen wenn die wörter verblubbern
damit sie verstehen wenn (uns) die wörter verblubbern
damit sie verstehen wenn (uns) die wörter versagen
wappen >> flaggen
flaggen >> fahnen
fahnen >> fähnlein
fähnlein >> fiesfies
fieselschw. >> parolen
parole >> hashtag
hashtag >> cashtag
IN ALLEN FARBEN
von Gerhard Ruiss
Da saßen wir. Unter lauter Unbekannten, die zu uns keinen Zugang hatten und wir keinen zu ihnen. Hörten wir Kinder, nur unsere, gab es Streit, hatten wir ihn, machte wer Lärm, blieb er draußen. Tür auf, in voller Lautstärke, Tür zu, stumm. Es hätte längst alles fertig sein müssen. Nichts wurde fertig. Wir waren das einzige herzeigbare Aussehen in der gesamten Wohnanlage. In den Zeitungen war der Bau schon feierlich eröffnet worden, bezogen wurde er nicht. Es lag an den Baustoffen, ihnen fehlte der Halt. Einmal hielten sie doch, und es wurde weitergearbeitet. Wir wohnten in einer Baustelle, in der das Betreten verboten war. Wir sollten darauf achten, wo wir hinstiegen. Wir verstanden kein Wort. Das sollte sich auch später nicht mehr ändern. Bis dahin wohnten wir kostenlos. Ausgenommen die Betriebskosten.
Die Mauern blieben dünnwandig, die Fenster geschlossen. Das ganze Haus war dicht. Durch Wände, Fenster, Türen, Decken und Böden kam kein Ton. Zunächst, weil niemand da war, dann, obwohl alle eingezogen waren. Keiner hörte etwas vom anderen. Jeder blieb für sich. Alle führten zwei Leben, ein für alle anderen unhörbares bei sich zu Hause und eines einem ständig über den Weg laufendes vor der Tür. Jeder lebte vor wie hinter der Tür in seinen eigenen vier Wänden. Die einen mit den Kopfhörern zur Selbstbeschallung in ihrer Klangwolke, die anderen, weil sie in Sprachen redeten, von denen man nicht einmal wusste, dass es sie gab und in die sie sich mit ihren eigenen Fernsehkanälen und Internet-Foren in ihre eigenen Verhältnisse zurückzogen. Tür auf, laut, Tür zu, stumm.
Außerhalb des Baus waren alle von da, im Bau kamen alle aus einer anderen Welt. Verbindungen rissen nicht ab, sie kamen einfach nicht zustande. Sie wurden an der Welt der Anwesenden vorbei mit anderen Nichtanwesenden geführt. Das soll einmal anders gewesen sein, im Bau war man aus aller Welt und außerhalb des Baus war eine andere.
Von Anfang an gab es einmal monatlich einen Treffpunkttag, die Türen standen offen, anfangs nur unsere Tür für niemanden, später jede Tür für jeden und genauso für niemanden. Keiner wollte zu irgendwem, um zu sehen, was man nicht hörte. Die einzige Begegnungszone blieb der Hof, der ständig beflaggt war. Nach innen, mit allen Flaggen von allen, die hier zu Hause waren. In der Begegnungszone trafen sich die Selbstbeschaller, tauschten die Klangwolken aus, schüttelten ihre Köpfe und gaben sie weiter, solange, bis schließlich jeder wieder seine eigene Klangwolke hatte. Tür auf, laut, Tür zu, stumm. Auf eine gemeinsame Klangwolke konnte sich niemand einigen, der Hof blieb unbeschallt, an den Treffpunkttagen wie an den anderen.
Nach außen sah die Wohnanlage jeden Tag gleich aus. Abwechslung boten die an der Fassade und über die Fenster der kostengünstigeren Wohnungen gehenden, nach ein paar Monaten wechselnden Werbebanner, aus denen der teils aus öffentlichen, teils aus privaten Mitteln finanzierte Bau errichtet wurde: „Gebaut aus Plastikverschweißverpackungen von Frischhalteprodukten.” Blickdicht oder milchig oder eingetrübt transparent gemacht, in allen Farben, bis auf die Fenster, die privat für innen angebrachte Werbungen zur Abdeckung des Eigenfinanzierungsanteils verwendet werden durften: „Hier könnte Ihre Werbung stehen.”
SCHWEIGEN
von Burçin Tetik
1. März
An diesem Tag herrschte absolute Stille in den kahvehanes, den türkischen Coffeshops die ausschließlich von Herren besucht wurden. Zehntausende Männer starrten einander an und wunderten sich, wohin ihre Stimme gegangen war. In der unbehaglichen Ruhe hörten sie den laut sprudelnden Wasserkochern zu.
4. März
Am vierten Tag der epidemischen Stille wusste immer noch niemand warum oder wie es passierte. Die Menschen wachten schlichtweg in einer sprachlosen Welt auf. Vor den Krankenhäusern begannen sich lange Schlangen zu bilden. Die Ärzte hatten aber keine Erklärung. Viele benutzten ihre Handys um mit Freunden und Familienmitgliedern, die im selben Raum saßen, zu kommunizieren.
8. März
Die Nachrichten waren überall. Ein 13-Jähriges Mädchen in einem entlegenen anatolischen Dorf hatte nicht nur geschrien, sondern auch echte Worte gesprochen. Als die Dorfbewohner ihr „Nein“ und „Hilfe“ hörten, rannten sie zusammen, nicht nur weil sie einen Hilferuf, sondern vor Allem überhaupt, Worte gehört hatten. Dort fanden sie ihren Onkel, stumm gestikulierend, geschockt und mit heruntergelassener Hose. Er hatte offensichtlich nicht erwartet, dass das Mädchen schreien oder gar sprechen würde, besonders in einer Zeit wie dieser. Doch sie erzählte. Was er in der Vergangenheit getan und was er wieder versucht hatte. Ihre Stimme war das einzige menschliche Geräusch.
9. März
Aus der ganzen Welt kamen Nachrichten von Menschen, die ihre Fähigkeit zum Sprechen wiedererlangt hatten.
15. März
Es ging nicht darum, wer sprechen konnte, sondern wer nicht. Die Ersten, die das Muster erkannten, waren Feministinnen, weil sie gewohnt waren, das Schweigen der Frauen zu lesen. Jeder, der jemals jemanden sexuell angegriffen hatte, verlor die Stimme. Mütter hatten Angst, dass ihre Ehemänner und Söhne kein einziges Wort mehr sagen würden. Dennoch schien niemand überrascht, dass es vor allem Männer waren, die stumm wurden. Die Täter versuchten Heilmittel, Akupunktur, Operationen, Meditation, entschuldigten sich sogar durch lange Briefe bei den Opfern und flehten sie um Vergebung an. Nichts davon funktionierte. Jeder wusste es. Warst du stumm, warst du ein Perpetator.
25. November
Zahlreiche Komitees von „Silent No More“ hielten weltweite Pressekonferenzen ab. Von Schweden bis nach Saudi-Arabien bauten lokale Gruppen ein globales Netzwerk auf. Ein türkischer Diktator hatte Selbstmord begangen, nachdem er seine Stimme und damit seine Macht verloren hatte. Die meisten Männer zogen sich aus der Politik zurück. Die Komitees stellten die neuen WeltleiterInnen aus allen Altersgruppen, Ethnien und Hintergründen vor. Sie hatten eines gemeinsam: Sie alle waren zuvor nicht gehört worden.